SÜHNEKREUZE

Wenn man durch Niederschlesien wandert, stößt man oft auf Steinkreuze, die einsam auf Feldern oder am Wegesrand stehen. Wenn sie sprechen könnten, könnte uns jeder seine eigene Geschichte erzählen. Und oft wären es Geschichten voller Blut, Schmerz, Wut, Traurigkeit, Mord und Reue.

 

Das mittelalterliche Recht war hart und unbarmherzig gegenüber Verbrechern. Selbst kleinere Vergehen wurden oft mit dem Tod bestraft. Geschweige wenn jemand eine so schreckliche Tat wie einen Mord begangen hat. Aber es gab Möglichkeiten, auch in einer solchen Situation zu überleben. Wenn die Familie des Verstorbenen einsichtig war, konnte eine Schlichtung geschlossen werden, bei dem der Täter der Hinrichtung entging, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt waren, darunter die Zahlung des so genannten „Wergelds“, einer Geldsumme für den Kopf des Opfers. Die Höhe des „Wergelds“ richtete sich nach dem sozialen Status des Opfers, so dass für die Ermordung eines Bauern weniger gezahlt werden musste als die Ermordung eines Adligen.

Der Täter war in der Regel auch verpflichtet, einen bestimmten Betrag an die Kirche zu spenden und die Beerdigungskosten zu übernehmen. Außerdem musste er eine bestimmte Anzahl von Messen für die Seele des Verstorbenen zelebrieren lassen und eine Bußwallfahrt, meist nach Rom oder Jerusalem, unternehmen. Die letzte Bedingung war die Finanzierung der Errichtung eines Sühnekreuzes an dem Ort, an dem die Tat begangen wurde.

 

 

Der Brauch, diese Art von Steindenkmälern zu errichten, kam um das 13. Jahrhundert aus dem Westen und hielt sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Abgesehen von der offensichtlichen Verbindung mit der Ideologie des christlichen Glaubens wurde die Praxis weitgehend von praktischen Erwägungen diktiert. Der Abschluss eines Abkommens zwischen den Familien des Täters und des Opfers sollte beispielsweise weiteres Blutvergießen im Zusammenhang mit Blutrache verhindern. Auch die Umstände und die Art und Weise, wie der Mord geschah, spielten eine Rolle. Am häufigsten wurden Einigungen in Fällen erzielt, in denen der Mord als Folge eines plötzlichen Streits oder eines Wutausbruchs geschah. Auch der soziale Status des Täters spielte eine wichtige Rolle. Im Mittelalter hatte ein Adliger weitaus mehr Rechte und Privilegien als beispielsweise ein einfacher Bauer, der in der Regel nicht in der Lage war, alle mit einem Schlichtungsverfahren verbundenen Kosten zu tragen.

Bis heute blieben etwa 600 Sühnekreuze in Polen erhalten, von denen sich zwei Drittel in Niederschlesien befinden. Sie wurden in der Regel aus Granit, Sandstein oder Basalt gefertigt. Deren Bau wurde von erfahrenen Steinmetzen ausgeführt, und der Täter musste für ihre Arbeit bezahlen. Auf den Kreuzen sind oft Werkzeuge abgebildet, die Mordwaffen darstellen. Die gängigsten waren Schwerter, Äxte, Armbrüste und Messer. Es gibt aber auch einen Kelch (Gift), eine Schaufel und sogar ein Schafschermesser, was einige Wissenschaftler zu der Annahme veranlasst, dass es sich dabei nicht um die Darstellung von Mordwaffen handelt, sondern um Symbole, die auf den Beruf des Opfers hinweisen.

Oft tragen die Kreuze auch Inschriften, die über die Umstände ihrer Errichtung informieren. In der Stadt Lewin Brzeski befindet sich am Ufer der Neiße in der Nähe des Friedhofs ein Kreuz mit folgender Inschrift: „Am 15. April 1617 wurde Georg Friedrich Brandtner, ein junger Mann von zwanzigeinhalb Jahren, an dieser Stelle ohne Grund von einem Mörder namens Georg … geboren in Sachsen, getötet“. Es ist nicht bekannt, warum der Name des Täters von der Steininschrift getilgt wurde. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass der Täter dies selbst getan hat.

 

 

Eines der berühmtesten Sühnekreuze in Polen steht in Stargard. Er erreicht eine Höhe von fast 3 Metern und wiegt etwa 2 Tonnen. Es ist das größte Denkmal seiner Art in Europa und das zweitgrößte der Welt. Das Kreuz wurde in der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts aus Gotland-Kalkstein in einer örtlichen Werkstatt hergestellt. Das Kreuz trägt auch eine Inschrift, die unter dem Bild des gekreuzigten Christus angebracht ist. Es ist auf Niederdeutsch geschrieben und seine Übersetzung lautet: „Gott sei Hans Billeke gnädig, 1542“. Auf der Rückseite des Kreuzes befindet sich eine weitere Inschrift: „1542 wurde Hans Billeke von Lorentz Madeira, dem Sohn der Schwester seiner Mutter, mit einer Eisenstange erschlagen.“ Es gibt auch eine alternative Übersetzung, nach der Hans ein Mörder gewesen sein soll, der sich an dem Mörder seines Neffen rächte.

Um die Sühnekreuze ranken sich viele Geschichten und Legenden. Um sie besser kennen zu lernen, packt man am besten einen Rucksack und macht sich auf die Suche nach diesen Sehenswürdigkeiten. Im Internet verfügbare Karten können nützlich sein, zum Beispiel die Karten, die von Nutzern des Portals geocaching.pl für das Projekt „Auf den Spuren der Sühnekreuze“ erstellt wurden. Es lohnt sich, sich zu beeilen, denn der Zustand vieler von ihnen verschlechtert sich von Jahr zu Jahr – auch durch die zerstörerischen Eingriffe des Menschen.

 

 

 

Quelle: Kurier kamieniarski

Autor: Jakub Zdańkowski   |   Publiziert: 07. 03. 2017

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